Die Rennersdorfer Prokopikapelle

Die dem hl. Prokop geweihte "Prokopikapelle" steht an einer stillen Waldecke am südwestlichen Hang des Kreuzberges in Rennersdorf. Aus dem tiefen Tal unter ihr kommt die Straße steil von Dittersbach herauf. Ihr Standort ist so entlegen, dass sie selbst vielen Dorfbewohnern unbekannt geblieben ist und ihr Name heutzutage gänzlich in Vergessenheit geriet. Dabei ist der hl. Prokop der Schutzpatron des Dorfes und es gab Zeiten, als sich zu seinem Namenstag das ganze Dorf versammelte.
Prokop, Abt des Klosters Sazawa um 985 bis 1053, ist nicht nur der Schutzpatron von Rennersdorf, sondern auch einer der Landespatrone von Böhmen. Er wird als Beschützer der Landwirte und Bergleute von Tschechen wie von Deutschen verehrt. Seine Statuen finden wir auf Pestsäulen mancher Städte, auf Anhöhen unter Lindenbäumen, an Außenwänden von Kirchen und auch im Kirchenraum selbst. Er fehlt auch nicht unter den Heiligenfiguren der Prager Karlsbrücke. Wie er aber zum Schutzpatron von Rennersdorf wurde, bleibt unbekannt.

Auch über das Alter der Prokopikapelle kann nichts Sicheres gesagt werden. Das Gründungsjahr 1800, welches im Kreis-Heimatbuch1) angeführt wird, ist nur eine Vermutung. Die einzige verlässliche Nachricht in der Rennersdorfer Chronik2) lautet, dass die "neuerbaute Kapelle am 10. Oktober 1886 von Pfarrer Ludwig Schön eingeweiht wurde." Ob dies an Stelle einer älteren Kapelle geschah, ist aus dem Text nicht ersichtlich, aber nicht auszuschließen. Die Ortschaft Rennersdorf gehörte wahrscheinlich seit ihrer Gründung zur Stadtpfarrei St. Jakob in Böhmisch-Kamnitz. Die Dorfbewohner mussten dorthin laufen, um dem Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen beizuwohnen, um ihre Kinder taufen zu lassen, um zu heiraten und schließlich die Verstorbenen zu Grabe zu tragen. Der kürzeste Weg dahin führte quer durch den Paulinengrund und weiter in Richtung Limpach. Der steile serpentinenartige Abstieg von Rennersdorf in diesen Talgrund wird auf alten Karten als "Kamnitzsteig" bezeichnet (heute blau markiert). Er beginnt im Ortsteil Überschar bei einem Kreuz am Waldesrand und führt als Hohlweg mit Resten einer Felsenkapelle und Inschriften aus dem 18. Jahrhundert zum Kreibitzbach hinab.
Die kirchliche Zugehörigkeit kleiner Gemeinden hat sich in der Geschichte oft gewandelt, so auch im Falle von Rennersdorf. Zur Zeit Kaiser Josefs II. gehörte Rennersdorf nicht mehr zu Böhmisch-Kamnitz, sondern zur Kreibitzer Seelsorge. Damals wurden Kommissionen gebildet, um zu untersuchen, welche Orte eine Kirche und einen Seelsorger am notwendigsten benötigten. Eine solche Kommission stellte den Antrag, in Dittersbach eine Pfarre zu errichten, was genehmigt wurde. Zu der neuen, dem hl. Johann von Nepomuk geweihten Kirche wurde 1787 außer Hohenleipa und Kaltenbach auch Rennersdorf eingepfarrt.1) Der Weg nach Dittersbach hieß von da an "Kirchsteig". Er beginnt bei der Prokopikapelle, führt westlich weiter und mündet nach etwa 500 Metern in die Straße nach Dittersbach. Dort stand ein ansehnliches Wegkreuz, dessen Reste noch unter jungen Fichten zu finden sind. Von ihm ist die Kirche nur noch einen Kilometer entfernt.
Die beiden Seitenaltäre der Dittersbacher Kirche waren zwei Ortsheiligen der eingepfarrten Gemeinden geweiht - dem hl. Prokop und der hl. Anna, der Schutzpatronin von Hohenleipa. In der Dittersbacher Kirche wurde also nicht nur das Kirchenfest am Nepomuktage (16. Mai) festlich begangen, sondern es fanden auch alljährlich feierliche Prozessionen am Gelöbnistag des jeweiligen örtlichen Schutzpatrons statt.4) Für Rennersdorf war es der 4. Juli (St. Prokop), der vom ganzen Dorf feierlich begangen wurde. Schon zeitig in der Frühe spielte eine vier Mann starke Kapelle am Kreuzberg und weckte die Dorfbewohner mit Musik. Dann kamen die Musiker herab zum Frühstück mit Kaffee und Kleckselkuchen. Nach 8 Uhr ging es geschlossen im Festzug mit Musik nach Dittersbach in die Kirche. Beim ersten dortigen Haus (Gasthaus Scholzetal) empfing der Pfarrer mit Ministranten die Prozession und segnete sie. In der Kirche fand ein feierliches Hochamt statt. Nachmittags kam der Pfarrer zu einem Bittgottesdienst zu der ausgeschmückten Prokopikapelle. Danach war er mit den Ministranten zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Die Übrigen begaben sich in die drei Rennersdorfer Gasthäuser.
Die Feier fand bei jeder Witterung am Patroziniumstag statt. Die Prokopikapelle diente auch zu Maiandachten und an den Bittagen vor Christi Himmelfahrt. Die Frau des Polizisten Hermann Storm hielt die Kapelle in Ordnung. Die Betreuung und Renovierung besorgte Familie Vater.5) Die hintere Wand der Kapelle war mit einem großen Bild des hl. Prokop geschmückt, der als Mönch dargestellt war und auf einen Felsen einschlug, dem eine Quelle entsprang.

Heute ist der hl. Prokop in Rennersdorf gänzlich vergessen. Seit dem letzten Prokopifest ist mehr als ein halbes Jahrhundert verflossen. Dennoch erwachte diese entschwundene Welt für mich noch einmal aus dem Dornröschenschlaf. Ich hatte die seltene Gelegenheit, für einen Nachmittag im Kreise der angestammten deutschen Dorfgemeinschaft zu verweilen. Es war nicht am Prokopitag, aber aus einem anderen Anlass, der es verdient, erwähnt zu werden.
Auf dem Kreuzberg, an dessen Fuß sich Rennersdorf erstreckt, wurde von einem Sturm das alte, morsch gewordene hölzerne Gipfelkreuz umgerissen. In der seit altersher vertrauten Silhouette des aussichtsreichen Berges fehlte es nunmehr. Es lag dort mehrere Jahre, bis sich das tief verwurzelte Heimatgefühl in den letzten Rennersdorfern rührte. Die beiden Töchter des letzten Ortsvorstehers, obwohl schon betagt, besorgten ein neues Gipfelkreuz. Zur Einweihung am 11. Mai 1991 fand sich auch ein Häuflein alter Rennersdorfer ein. Sie kamen aus allen Ecken der Welt angereist. Jemand von den zuschauenden Tschechen bemerkte, es seien Insassen eines Altersheimes gekommen. Sie waren feierlich gekleidet, einige mussten sich schon auf Stöcke stützen. So pilgerten die Leute zum Gipfel des Berges, den ihre Vorfahren schon vor Generationen mit einem Kreuz erhöht hatten. Auch ein deutscher Priester war unter ihnen. Er stand, umgeben von einer kleinen Schar alter Menschen, unter dem Gipfelkreuz, an dem ein Jesus aus Blech angenagelt war. Als der Priester zu beten begann, neigte sich gerade die Sonne zu den Tafelbergen des Elbsandsteingebirges am Horizont. Gewitterwolken kamen auf, und es wehte ein starker Abendwind. Ich verstand kein Wort, aber mich überkam ein Gefühl, als stünde ich am Berge Golgatha und erlebte das Ende einer entschwindenden Welt.
Als stummer Zeuge alter Tradition blieb nur die Prokopikapelle bestehen. Aber auch nach 1945 fanden sich gute Menschen, welche die Kapelle pflegten. Seit alter Zeit erfolgte die Betreuung der Kapelle durch die Besitzer des nahegelegenen Gehöftes Vater.6) Den späteren tschechischen Pächtern und Eigentümern von Vaters Haus verdankt die Kapelle ihr Weiterbestehen und ihr heutiges sauberes Aussehen. Das Bild des hl. Prokop wurde in den letzten Jahrzehnten durch andere Heiligenbilder ersetzt. Leute aus der Nachbarschaft besuchen gern die Kapelle und bringen manchmal Blumen mit. So folgte dem alten, 1945 erloschenen christlichen Volksbrauch in aller Stille ein neuer - weniger festlich und prunkvoll, aber ebenso wunderbar.

Quellennachweis und Anmerkungen

  1. A. Herr: Heimatkreis Tetschen-Bodenbach. Nördlingen 1977, S. 622, 327, 418. (Auf S. 327 sind die Schutzpatrone von Rennersdorf und Hohenleipa verwechselt!)
  2. E. Vater: Chronik von Rennersdorf und nächster Umgebung. Handschriftliche Chronik ab 1925. Leitmeritzer Staatsarchiv, Zweigstelle Tetschen.
  3. Gedenkschrift aus dem Turmknopf der Dittersbacher Kirche, der 1992 abgenommen wurde.
  4. Mündliche Mitteilung von Brunhilde Michel, Dittersbach Nr. 32, am 23. 11. 1984.
  5. Schriftliche Mitteilung der Schwestern Anna Günter und Elisabeth Hüber, beide geb. Grohmann, früher Rennersdorf, im Oktober 1992. Ernst Vater aus Nr. 31 bezeichnete sich selbst als "Landwirt und Maler". Er ist auch der Autor der unter Punkt 2 erwähnten fünfteiligen handschriftlichen Chronik von Rennersdorf.
  6. Es wurde anfangs als Betriebsferienheim genutzt, heute ist es wieder in privater Hand und dient als Pension.