Das Kreuz am Bergeshang bei Khaa
Es ist kaum zu glauben,
wie es die Menschen früher verstanden, sich zu amüsieren. Was es bloß an Feiertagen
und verschiedenen Volksfesten, die manchmal nur auf eine Dorfgemeinschaft beschränkt
waren, gab! Auch Khaa bei Schönlinde erlebte solche Dorfvergnügen, wo stets
jung und alt auf den Beinen war. Es war auch kein Wunder - die niedrigen Häuschen
duckten sich auf den Hängen der Hügellandschaft, versteckten sich hinter den
Büschen oder in der Schlucht des Fuchsloches. Zwischen den Menschensiedlungen
erstreckten sich mit Fleiß bewirtschaftete Felder und blühende Wiesen. So viel
Schönheit auf einmal, das ist mehr als ein Mensch überhaupt erfassen kann. Wenn
er sich die ganze Woche in der Einsamkeit herumplagt, muss er ausspannen, unter
die Menschen gehen und Freuden und Sorgen teilen.
Mit der Erinnerung an die Khaa (so nannte
man es früher) verbindet sich eine Verzauberung, die sich - wie Verzauberungen
es so an sich haben - der Definition entzieht. Schon dieser geheimnisvoll verschlüsselte
Name jener Landschaft, die an sich ein geheimnisvolles Märchen ist. Numinoses
Gebiet, in dem nicht nach ordinärer Uhrenzeit gerechnet wird, so jedenfalls
behauptet es die Erinnerung. Inmitten von Naturschönheiten begegneten hier die
irdischen Genüsse den himmlischen. Nur so ist es verständlich, dass an der kurzen
Dorfstraße fünf Gasthäuser nacheinander folgten1)
und rings umher etwa ein Dutzend Kreuze herabschauten. Während der müde Körper
des Wanderers Erfrischung in den Wirtshäusern fand, erquickte sich seine Seele
an den christlichen Zeichen, die ihm die Richtung zur Ewigkeit wiesen.
Ich hatte das große Glück, die letzten deutschen
Ortsbewohner kennenzulernen, die noch vor dem Ersten Weltkrieg geboren waren
und mit denen die Tradition ein Ende nahm. Ich hatte sie ins Herz geschlossen,
genauso, wie die umliegende Landschaft und möchte einige Erinnerungen mit Ihnen
teilen. Am liebsten besuchte ich die Hieke Anna (+ 3. August 1986). Sie wohnte
in einem idyllischen Häuschen unterm Wald. Wenn es kalt war, saßen wir in der
niedrigen, warmen Stube und im Sommer auf der Gartenbank am Ufer des Kirnischtbaches
umgeben von Blumenbeeten. Als sie erzählte, war ich mäuschenstill. Ich wollte
verhindern, dass auch nur die geringste von ihren Erinnerungen in Vergessenheit
gerät...
Zu den beliebten Volksspielen von Khaa gehörte das "Wildemannjagen". Auch die Bewohner der umliegenden Gemeinden ließen sich dieses Vergnügen nicht nehmen und so fand sich hier z. B. im Jahre 1927 eine unglaubliche Menschenmenge von 2 500 Personen ein.2) Am frühen Morgen wurden Krenwürstelbuden aufgestellt, Wagen vorgerichtet, Pferde und Reitzeug geputzt, Säbel geschliffen, Uniformen hergerichtet, kurz alles, was zu diesem Treiben nötig war, wurde mit größtem Eifer in Ordnung gebracht. Als Wilder Mann wurde ein kräftiger Kerl ausgesucht, der sich das Gesicht mit Ruß schwärzte, ein Fell überzog und einen Strohhut aufsetzte. Er trieb verschiedene Übeltaten und wurde von seinen Verfolgern, die weiße Hosen und lange rote Zipfelmützen trugen, umhergejagt. Manchmal hatten sie große Lederpeitschen, mit denen sie durch lautes Schnalzen auf den Wilden Mann aufmerksam machten. Alles fing gegen halb drei in der Khaaschenke3) an, wo sich die Ritter und Knappen versammelten. Im vollen Triumphzuge ging es dann durch den Ort bis zur Brücke gegen Langengrund und wieder zurück bis zum Gasthaus "Zur Böhmischen Schweiz". Dort verkündete nun der Herr Oberamtmann die Schreckenstaten des Wilden Mannes (er sollte in seiner Wildheit dem Dixmüller in das Wasserrad gebissen haben). Während nun die schrecklichen Taten des Wilden Mannes verkündet wurden, kam ein Mann und meldete, dass jener sich am Schwarzen Stein am Scheibenberge aufhalte und denselben fürchterlich bearbeite. Sofort brachen Ritter und Knappen zu Pferd und zu Fuß auf und gruppenweise ging es im Laufschritt den Scheibenberg hinan. Aber der Wilde Mann mit seiner Keule durchbrach die Reihen der tapferen Verfolger, floh gegen die Schmiedeheide und verbarrikadierte sich in der Dixmühle. Auch dieses Versteck musste er aber räumen, er entkam immer wieder, übersprang mit der größten Wildheit den Kirnischtbach und versteckte sich auf Herrn Pohl´s Steinrücke. Schon etwas abgemattet von der vielen Verfolgung, wollte er wahrscheinlich bei einem hiesigen Fleischermeister eine wilde Tat ausführen. Vorher wurde er jedoch umzingelt und von Lanzen- und Säbelstichen durchbohrt, so dass er ohnmächtig zusammensank. Sofort sprang ein beherzter Ritter hinzu und entledigte ihn seines Blutes.4) Nun wurde der Leib des Wilden Mannes auf einen hierzu vorgerichteten Wagen geladen und wieder ging es im vollen Triumphzuge zurück bis zum Gasthaus.5) Dort wurde er nun in sicheren Gewahrsam gebracht. Der denkwürdige Tag fand sein Ende mit dem Abhalten eines Ritterkränzchens.6) Das Wildemannjagen war ein alter Volksbrauch, der anfänglich in der Umgebung von Schluckenau, später aber auch in anderen Dörfern üblich war.7)
Weil Khaa keine Kirche besaß, sondern nur eine Christi-Himmelfahrtskapelle, wurde an diesem Feiertag jedes Jahr, bei jeder Witterung, eine Prozession mit Kirchengesang und Gebeten für das Wohl der Bewohner und für eine gute Ernte der Bauern abgehalten. Aus der Schnauhübler Kirchengemeinde kam eine Vorbeterin, später, als diese verstorben war, übernahm der Schnauhübler Kirchendiener dieses Amt. Bei dem Umzug waren immer viele Erwachsene, aber auch Schulkinder vertreten. Als Ausgangspunkt diente die Kapelle an der höchsten Stelle der Dorfstraße am westlichen Abhang des Scheibenberges, wo ein schönes Christi-Himmelfahrtsbild vorhanden war.8) Es ging an der Schule vorbei und den Scheibenberg hinunter. Von den zehn Stationen war das erste Kreuz bei Rothe Eduard9) angebracht; oben an der Hauswand, darunter stand ein Tisch mit frischen Blumen und zwei brennenden Kerzen. Alle übrigen Stationen waren schön hergerichtet, auch die weißen Tischdecken fehlten nicht. Das zweite Kreuz war nur wenige Meter weiter bei Schindlers Gasthof (später Heene). Die dritte Station war bei Pohls Krämerladen, das vierte Kreuz beim Stelzer-Fleischer (hier wollte der Wilde Mann dessen Fleischwaren verzehren). Von da aus ging es die Straße weiter über die Kirnischtbrücke, den Langengrund bis zu Selzens-Gasthaus und durch Nassendorf. Durch diesen heute verfallenen Ort bewegte sich der Felderzug (Stationen waren bei Richters, Pohls und Schindlers)10) zur höchsten Erhebung der Hügellandschaft, die sich zwischen Khaa und Nassendorf hinzog. Hier oben stand zwischen zwei Linden das große Holzkreuz vom Peschke-Bauer.11) Der Umzug ging dann bergab bis zu Marschners Kreuz12) und zur zehnten Station beim Kreuz neben der alten Khaaschänke an der Daubitzer Straße.13) Von hier waren es bis zum Ausgangspunkt - der Christi-Himmelfahrtskapelle - nur wenige Minuten. Der Umzug löste sich auf, denn es war ja Kaffeezeit geworden. Dann wurde der Festtag bei vielen Familien mit Kaffee und Kleckselkuchen weiter gefeiert. Gegen Abend versammelte sich die jüngere Generation (in den Jahren um 1920 bis nach 1930) zu einem Tanzabend im Saal des Gasthofes "Zur Böhmischen Schweiz", bei dem auch die Jugend aus den nahegelegenen Dörfern nicht fehlte.14)
Wenn ich heute durch Khaa wandere, betrachte ich verträumt die vertrauten Häuschen, aber keine bekannte Gestalt erwidert meinen Blick. Viele Gebäude werden nur als Sommerwohnungen genutzt und von Fremden bewohnt, die hier keine Wurzeln haben. Wie nahe liegen mir dann die Gedanken von Stephan Rothe, der am Hang unter Peschkes Kreuz wohnte. Als ich ihn zum letzten Mal im Jahre 1977 besuchte, gab er mir auf den Weg sein Gedicht über dieses Kreuz, das er auch vertonte. Das ganze Leben blickte er in die Khaa herab und sah den Werdegang seiner geliebten Heimat. Er gehörte zu jenen, mit deren letztem Atemzug auch die Seele des Dorfes entschwand.
Das Kreuz am Bergeshang
Es steht auf lichter Höhe
ein Kreuz am Bergeshang,
in majestätscher Ruhe
hörts nur der Vöglein Sang
und wenn auch Stürme brausen,
schaut ruhig es ins Tal
am frühen Morgen grüßt es
der erste Sonnenstrahl.
Zwei alte Linden breiten
die Zweige schützend aus
und schließen so das Kreuz, wie
ein kleines Gotteshaus
zu Füßen wie ein Teppich
die blumenreiche Au
und über all dem wölbt sich
des Himmels dunkles Blau.
Verträumt sieht´s schon viel Jahre
ins Dörfchen auch hinein,
sah auch der Menschen Streben
und´s bisschen glücklich sein,
es sah, wie sie sich mühten
im Schweiße Tag und Jahr,
weil ihnen ihre Heimat
doch lieb und teuer war.
Und als die Menschen mussten
verlassen diesen Ort
da zog mit ihnen allen
auch Glanz und Schönheit fort
wie einsam und so traurig
blickt´s Kreuze nun ins Tal
wo ist das rege Leben,
das herrschte hier einmal.
Wie sauber freundlich blühend
war´s einst im Dörfchen hier,
als unbeschreiblich grauer
liegt es nun heut vor dir
die öden Fensterhöhlen
blicken traurig hinauf
nicht konnt es Raub - Zerstörung,
Vernichtung halten auf.
Sogar in seinem Namen
ward´s ihnen angetan
gekreuzigter Erlöser,
befrei uns von dem Wahn,
dass es auf dieser Erde
noch gibt Gerechtigkeit;
das Dörfchen unterm Kreuz es
voll Qual zum Himmel schreit.
Du Kreuz auf höhern Bergen,
noch stehst du aufrecht da,
schaust in das Tal zu Füßen
und auch ins Dörfchen Khaa.
Doch wenn du alt und morsch bist,
vielleicht dauerts nicht lang,
dann wirst auch du verschwinden
Du Kreuz am Bergeshang!
Anmerkungen und Literatur
- Von Daubitz folgend war es die Khaaschänke, dann die Gasthäuser Strobach, Peschke, Khaatal und Zur Böhmischen Schweiz.
- Khaa hatte damals an die 450 Einwohner. Im Jahre 1999 wohnten hier nur 21 Personen, das ist nicht einmal die Hälfte der Mitgliedszahl der Freiwilligen Feuerwehr von Khaa am Ende des 19. Jahrhunderts.
- Die Khaaschenke hatte die Nr. 16 und wurde 1945 abgerissen. Ihre Grundmauern liegen zwischen den neuen Wochenendhäusern Nr. 105 und 283.
- Der Wilde Mann hatte unter der Kleidung eine mit Blut gefüllte Schweinsblase befestigt, die vom Schwerte des Ritters angestochen wurde.
- Die offizielle Bezeichnung lautete zwar "Gasthaus Zur Böhmischen Schweiz", aber gebräuchlicher war "Leder Schindler." Das Gebäude Nr. 26 überlebte als Gasthaus den allgemeinen Niedergang nach 1945 und diente zur Zufriedenheit der Touristen und der örtlichen Stammgäste unter dem Namen "hostinec Kyjovské údolí" (Gasthaus Zum Khaatal). Nach Weihnachten 1992 brannte es jedoch ab und seine Ruinen wurden im Jahre 1994 entfernt. Demnächst soll hier mit dem Neubau eines Gasthauses begonnen werden.
- Die Schilderung des Wildemannjagens ist aus dem Gedenkbuch der Freiwilligen Feuerwehr in der Ortschaft Khaa bei Schönlinde entnommen, das mir Franz Runge (+ 9. 1. 1980), der Sohn des Feuerwehrkommandanten aus Khaa Nr. 19, freundlicherweise geliehen hat.
- F. Lorenz: Der Wilde Mann. Beilage zum Staffelstein, Heft 8. Marienbad 1922. Es handelt sich um ein Spiel in vier Szenen, das als ein "nordböhmisches Oster- und Frühlingsspiel aus der Tollensteiner Gegend" bezeichnet wird. Es kommt hier zum Kampf zwischen dem Frühling (der Pilger) und dem Winter (der Wilde Mann). F. Lorenz bemerkt zu der Geschichte dieses Spieles, dass im Laufe der Zeit der gesprochene Teil des Stückes und der ursprüngliche Inhalt fast verloren gingen, bis fast nur die äußere Handlung übrig blieb. Hauptsache war und sei noch immer äußere Prunkerscheinung in Trachten und Waffen und die drastische Hinrichtungsszene. Die Sage, auf welche man dieses Volksfest zurückzuführen pflegte, erwähnt A. Paudler (Cultur-Bilder u. Wander-Skizzen aus den nördlichen Böhmen. B. Leipa 1883, S. 70-71.)
- Diese "Capelle" wird neben dem dortigen "brunn" in einer Karte von 1795 erwähnt (Bestandskarten der Herrschaft Böhmisch-Kamnitz von 1794-1798, im Staatsarchiv Tetschen-Bodenbach deponiert) und dann auch im Stabilen Kataster von 1843. Vor dem letzten Krieg wurde sie generationenlang von der Familie Rösler betreut, die das Haus Nr. 61 gegenüber der Kapelle bewohnte. Bei der Quelle hatten sie einen Wasserbehälter mit einer Forelle. Um 1900 sollen die Röslers die Kapelle renoviert haben. Sie wurde nach 1945 ausgeraubt und verfiel. Zuletzt wurde sie 1991 von der Verwaltung des Landschaftsschutzgebietes renoviert und am 28. Mai 1992 wieder eingeweiht. Zu diesem Fest kamen auch viele frühere Dorfbewohner aus Deutschland mit dem Bus in ihre alte Heimat gereist, die diesen Brauch auch in den vorigen Jahren aufrechterhielten. Die Kapelle wurde sehr einfach eingerichtet. Trotzdem kam es im Jahre 1998 zum Diebstahl einer einfachen und wertlosen Figur aus der Nische über dem Eingang, wobei das Glas zerschlagen wurde. Heute versorgt die Kapelle der Sohn von Frau Otilie Voldřich (+ 14. 12. 2002).
- Das Wirtshaus hieß offiziell "Gasthaus Khaatal", wurde aber nach seinem Eigentümer nur "Gasthaus Rothe" genannt. Der Wirt Eduard Rothe stellte in Vitrinen archäologische Funde von dem nahen Wüsten Schlosse aus. Ende des 19. Jahrhunderts grub er dort mit anderen Mitgliedern des Gebirgsvereines, welcher auch das Wüste Schloss zugänglich machte. Nach 1945 landeten diese Exponate auf dem Müll. Das einstige Gasthausgebäude (Nr. 22) gehört heute der Karlsuniversität.
- Schindlers Kreuz, genannt beim Wünschbauer, steht in Nassendorf noch heute. Auf dem viereckigen Sockel des Kreuzes sind die Namen der vier Evangelisten eingemeißelt, das eiserne Kreuz fehlt.
- Die Sage erzählt, dass auf dieser Anhöhe ein oder zwei schwedische Soldaten begraben liegen (mündliche Mitteilung von F. Runge und S. Rothe im J. 1977). Nach schriftlicher Mitteilung von Marie Marschner, ehem. Khaa Nr. 3 (geb. Peschke, später Roggendorfstr. 105, Köln 80), hat ihr Großvater als Erinnerung die Linden gepflanzt und das Kreuz errichtet. Als es verkam, wurde es nach dem Ersten Weltkrieg von seinem Sohn erneuert. 1999 wurde dieses faul gewordene Kreuz nach dem alten Vorbild von den Touristen aus Schönlinde wieder hergerichtet.
- Es war aus Holz und stand noch um 1980 gegenüber Marschners Haus Nr. 4 in der "Alten Khaa".
- Es handelt sich um das Wegkreuz mit steinernem Sockel gegenüber von Nr. 78. Das eiserne Oberteil wurde nach 1945 entwendet und 1991 erneuert. Um 2003 soll hier ein Parkplatz entstehen und aus diesem Grund soll das Kreuz einige Meter nach Norden versetzt werden.
- M. Marschner: Das Khaatalfest am Christi-Himmelfahrtstag. UN Folge 498/1991, S. 140. Volkstümlich wurde das Fest als "Khaaer Madelfest" bezeichnet. Ähnlich nannte man das Annabergfest bei Lobendau als "Madlmorcht". Wohl deshalb, weil derartige Festveranstaltungen eine gute Gelegenheit waren, um die Richtige oder den Richtigen zu finden. (M. Schoeber: Das Annabergfest von Lobendau. UN, Folge 573/1997, S. 233.)