Der Liechtensteiner Gedenkstein unterm Tollenstein
Seit meiner Kindheit träumte ich von entlegenen Gebirgstälern. Auch meinen Vater zog die Gebirgswelt mächtig an. Das erste Hochgebirge, in dem wir zusammen langgestreckte Täler durchwanderten, war die Belauer Tatra, deren würzige Luft und fröstelndes Klima ich bis heute nachfühlen kann. Später besuchten wir mit Freunden die Südkarpaten und das bulgarische Rhodopengebirge, wo wir uns tagelang in den Wäldern mit schweren Rucksäcken herum plagten. Am Ende der ausgedehnten Täler, wo man eigentlich ein Ende des Weges erwartet hatte, stand manchmal eine Behausung oder ein orthodoxes Kloster, in dem zur Zeit der Türkenkriege die Bevölkerung Schutz fand. Es lebten hier Bären, rauchten Meiler und man begegnete richtigen Einsiedlern. Was für eine geheimnisvolle Schönheit inmitten ferner Berge!
Auch in unserer Heimat gab es mal Zeiten, wo diese versunkene Welt zur Wirklichkeit gehörte. Zu den geheimnisvollsten Bergen zählte auch die Umgebung des Tollensteins. Die Burg wurde im Dreißigjährigen Krieg im Jahre 1642 von den Schweden niedergebrannt und lag seitdem als Ruine da. Im nächsten Jahrhundert behausten die Gemäuer einige Jahre lang zwielichtige Gestalten und Räuberbanden. Ihr Anführer soll Kardinek geheißen haben, nach ihm folgten als Räuberhauptmann Grünbart oder Grünhans. Sie wurden zum Schrecken der breiten Umgebung, so dass die Bevölkerung dieses "Gesindel" - wie es in alten Chroniken berichtet wird - aus den Burgruinen vertreiben musste.
Die verlassene Burg wurde dann zeitweise von verschiedenen Abenteurern aufgesucht, die in den Gemäuern nach Schätzen oder geheimen Gängen suchten. Um 1850 erbaute neben der Burgruine ein Einsiedler seine Behausung.1) Sagen erzählen von Wälschen, die hier vor Jahrhunderten nach Edelsteinen suchten.2) Bohuslav Balbin erzählt von den "Tollensteiner Bergen", dass am Fuße des Tollensteins eine Quelle entspringt, welche Perlen lieferte, an Größe und Rundung den Erbsen gleichend. Ein Bach in der Nähe soll goldhaltig sein. Vor allem reich an Schätzen sei der nahe, weitberühmte und berüchtigte Meisengrund, von welchem die lockendsten wie schauerlichsten Sagen im Umlaufe waren.3) Dieser Grund, um dessen Namen etymologisiert wurde,4) hat bis heute einen Hauch von Romantik behalten. Um so geheimnisvoller muss das Tal vor der Erbauung der Kaiserstraße von Prag nach Rumburg gewesen sein,5) die den ausgedehnten Wald zwischen Tollenstein, Finkenkoppe, Schöber und Hirschenstein teilte. Bis dahin endete die Zivilisation bei der alten Buschmühle, in deren Umgebung im 18. Jh. die ersten Holzhütten der Waldarbeiter vom späteren Buschdörfel (Innozenzidorf) entstanden. Den großen Holzreichtum nutzte im Mittelalter auch eine Glashütte, die am Schöberwasser in Betrieb war6) sowie in der näheren Umgebung arbeitende Holzmeiler.7)
Auch der Bergbau, der einst im Meisengrund betrieben wurde, ist von einem Geheimnis umhüllt. Es kann sich um Bergbauversuche aus der Zeit der Schleinitze gehandelt haben. Wer weiß? Als Überrest ist hier heute ein kaum wahrzunehmender Eingang in einen verschütteten Stollen zu finden - nur ein Wässerlein rieselt aus einer steilen Talmulde. Die Örtlichkeit finden wir nordöstlich vom Bahnhof Tannenberg im Revier Goldgruben8), oberhalb der Goldgrubenstraße. An dieses Revier knüpfen sich sagenhafte Erzählungen, deren Entstehung wohl mit dem verschütteten Stollen, dem sog. Meisengrundloch, in Zusammenhang stehen. Die letzte glaubhafte Nachricht berichtet darüber, dass es nach 1920 einer Gruppe von waghalsigen Burschen gelang ins Innere vorzudringen, aber am Ende des Ganges war eine vergitterte Sperre vorhanden.9) Damit ein mögliches Unglück verhindert werde, wurde der Stollen verschüttet. Das Einzige, was in der Nähe übriggeblieben ist, sind einige Sandsteinblöcke mit Jahreszahlen, Initialen10) und einer französischen Inschrift "Invincible Maitre de la Venaison. Uriano 6. 4. 1827". Obwohl sich die Inschrift recht geheimnisvoll gibt, hat sie mit Bergbau nichts zu tun. Sie bedeutet "Unübertrefflicher Meister vom Wildbrett". Auf diese Weise verewigte sich hier wohl aus Anlass einer Jagd ein guter Schütze oder eher ein vorzüglicher Koch Uriano (=Ullrich), der das Wildbret zur Zufriedenheit der Jagdgesellschaft vorbereitete. Die Jagden wurden vom Adel veranstaltet, in unserem Falle also von den Liechtensteinern. Die Stellen von ähnlichen "Halali" wurden im Gelände analog auch in anderen Herrschaften gekennzeichnet. So gibt es z. B. in der Böhmischen Schweiz ausgemeißelte Jagdhörner und am Jeschkenkamm finden wir in dem ehemaligen Rohanschen Tiergarten sogar sieben Jagdglückssteine.11)
Die waldreiche Gegend zwischen dem Tollenstein und dem Schöberberg bildete den südlichsten Teil der Liechtensteiner Herrschaft Rumburg. Sie kauften diesen Besitz im Jahre 1681 vom Grafen Pötting für 270 Tausend Gulden. Ihre Herrschaft wurde mit der ersten Bodenreform in den Jahren 1922 bis 1925 beendet und der gesamte Besitz durch erzwungenen Abtretungsvertrag enteignet und zunächst vom Staat übernommen.12) Auch wenn seit diesem Ereignis nur ein Menschenalter vergangen ist, verschwanden die Liechtensteiner vollkommen aus dem Gedächtnis der Bevölkerung Nordböhmens, als ob die Zeit der Adeligen ins Märchen gehören würde. Ein fehlendes Geschichtsbewusstsein, das für die heutige Bevölkerung und Zeit geradezu kennzeichnend ist. Der Letzte, der sich der Liechtensteiner erinnerte und der mir von ihnen erzählte, war Johann Münzberg. Sein Großvater erbaute 1865/66 in den Ruinen der Burg Tollenstein eine Gastwirtschaft, wo Fürst Johann von und zu Liechtenstein oft einkehrte. Seine Besuche nahmen mit dem Jahre 1923 ein Ende, als die Eigentumsrechte der Burgruine vom tschechischen Staat übernommen wurden. Auch die Münzbergfamilie musste die Tollensteinwirtschaft schließlich verlassen und unter den Burgfelsen umziehen.13)
An die Liechtensteiner erinnern im Niederland heute nur noch einige steinerne Wappen. Sie sind in Gemeinden zu finden, die ihnen einst gehörten.14) Für die neue Bevölkerung haben sie keine Bedeutung. Es sind lediglich heraldische Gegenstände, die im staatlichen Denkmalverzeichnis unter einer Nummer eingetragen sind.
Und doch leben noch Zeugen der adeligen Zeiten. Es sind hunderttausende von Bäumen in den Waldbeständen des ganzen Niederlandes. Sie wurden vom fürstlichen Waldpersonal noch vor der Bodenreform oder gar zur Zeit der Habsburgmonarchie angepflanzt. Viele sind zwar schon gefällt und verkauft worden, zahlreiche bilden aber bis heute das Waldkleid der heimischen Bergwelt. Ein alter Bestand von Douglastannen und Lärchen im Meisengrund erinnert sich bestimmt noch an die Zeiten der Liechtensteiner. An einer Stelle bilden diese Bäume eine winzige Lichtung, in deren Mitte ein kleines Denkmal aus Sandstein verborgen ist. Die einfache Inschrifttafel mit den Initialen FJL und den Jahreszahlen 1858 - 1908 ist heutzutage nichtssagend. Wenn Sie aber aufmerksamer hinschauen, werden Sie feststellen, dass die stattlichen Baumriesen symmetrisch im Halbkreis gepflanzt sind und an dem Denkmal Wache halten. Sie erlebten noch die fürstlichen Zeiten und erinnern sich, genauso wie der letzte "Ritter vom Tollenstein" Münzberg, an unseren letzten Liechtensteiner Johann, dessen fünfzigjähriges Regierungsjubiläum das Denkmal vor dem Vergessen bewahrt.15) Aber nicht nur die alten Nadelbäume umgeben den mit Flechten bewachsenen Stein. Im Laufe der vielen Jahre sind aus ihren Samen neue Bäumchen aufgewachsen, die einmal ihren Platz einnehmen werden und hier wieder treu Wache stehen. Sie sind nicht wie wir Menschen, sie haben ein besseres Gedächtnis.
Anmerkungen und Literatur
- Mündliche Mitteilung von Johann Münzberg (+ 1977) aus St. Georgenthal Nr. 97 vom 15. 5. 1971, der sich an die Reste der Einsiedelei noch erinnerte.
- Einen außergewöhnlichen Reichtum fand hier angeblich der Italiener Molli. Er hinterließ ein umfangreiches Manuskript mit einer Anweisung zur Hebung der dort befindlichen Schätze. Wenn Sie aber doch nichts finden würden, werden Sie in der Anweisung versichert, daß "Gott diesen Schatz nicht jedem zeigen will, derweil er vorsiehet, daß es nicht jedem Menschen nützlich, reich oder in großem Vermögen zu sein, alldieweilen sich mancher dadurch die Seligkeit verscherzen würde, wenn er reich wäre und würde vielleicht diese Gabe Gottes mehr zum Bösen anwenden, als zur Ehre Gottes" (E. Donth: Ein Tollensteinbüchlein. NEC, 8. Jg., S. 24-29. B. Leipa 1885).
- Bohuslaw Balbin: Miscellanea historica regni Bohemiae. Lib. I., Cap. XIV, Pag. 40, Prag 1679. Nach Balbin, der über die Tollensteiner Umgebung auch an anderen Stellen berichtet, schreibt in diesem Sinne auch der Topograph Schaller (1787) und der Schönlinder Geschichtsschreiber Mussik (1820). Der Rumburger Chronist Hockauf (Heimatskunde des pol. Bez. Rumburg, S. 43. Rumburg 1885) meint dagegen, dass "sich die Sage sofort als eine plumpe, jeder geognostischen Wahrscheinlichkeit entbehrende Erfindung kennzeichnet und erweist sich als eine von dem Grundherrn geflissentlich ausgeprägte Reklame, dazu dienend, Menschen in die sonst vom Volke mit allem möglichen Schauergestalten erfüllten Waldschluchten der Gebirge zu locken." Im J. 1835 wird eine Sage "Das Weibchen am Stein oder der Berggeist im Meisengrunde" erwähnt (O. Sch.: Fluß- und Bergnamen vor 150 Jahren. Beiträge zur Heimatskunde. Warnsdorf 1932, S. 178).
- Der Name, der auch Meissengrund geschrieben wird, kann einfach nach dem Vogel Meise gedeutet werden. Hantschel unterliegt volksetymologischen Anschauungen, indem er die Bezeichnung des Grundes von Bergleuten ableitet, die hier Bergbau betrieben haben und die aus Meißen stammen sollten (demnach also richtig "Meißnergrund", Dr. F. Hantschel: Nordböhmischer Touristenführer, S. 200. B. Leipa 1907). Wahrscheinlicher erscheint mir die Erklärung von "maißen", d. i. Abholzen. Ähnlich bedeutet "Abmeißung, Maiß", eine Lichtung oder einen Kahlschlag (J. A. Schmeller: Bayrisches Wörterbuch, I. Band, S. 1663. München 1985).
- Bis zum J. 1805 erfüllte ihre Funktion die Alte Prager Straße, welche westlicherseits vom Tal verläuft. Näheres findet man darüber in der ersten Fortsetzung.
- Ihre Überreste wurden erst 1986 entdeckt, auch wenn sich auf sie vielleicht die Erwähnung im NEC bezieht. Nach archäologischen Untersuchungen von 1990 stammt sie aus dem 13. Jahrhundert und gehört somit zu unseren ältesten Glashütten (E. Černá: Předběžná zpráva o arch. výzkumu. Děčínské vlastivědné zprávy Nr. 2, S. 16. Děčín 1992).
- Der Name der Jagdhütte "Na milíři" ("Am Meiler") am nordwestlichen Hang der Finkenkoppe, ist wortwörtlich zu nehmen, denn die Hütte wurde nach 1945 auf einer ehemaligen Meilerstätte errichtet. Dies beweisen Reste von Holzkohle, sowie die Aussage eines Hegers, der am Bau beteiligt war. Mündliche Mitteilung vom Heger Tomčík (verst. 1979) von der Großen Maute bei Niedergrund am 23. 2. 1978.
- Wirtschaftskarte Rumburg, Niedergrund vom J. 1900, Maßstab 1:7 200. Ähnliche romantische Namen findet man unter unseren Flurnamen eine ganze Reihe.
- Mündliche Mitteilung von M. Schindler (bis 1945 Heger auf der Finkenkoppe) aus Olbersdorf Nr. 131 bei Zittau im J. 1974 und Frau Krause aus Innozenzidorf Nr. 14 im J. 1972. Im nördlichen Teil des Meisengrundes befand sich ein weiterer Stollen, welcher den Anlass zur Sage vom Geheimgang zwischen der Burg Tollenstein und dem Meisengrund gegeben hat.
- So befinden sich hier die Jahreszahlen 1815, 1827, 1870, 1874, die Initialen FR, KG, Joa Sch, WB, GH, JP, JK und die Namen Janczek, R. W. Seidel, Richter aus Jungbuch, AM Jungnickel. Die zwei gekreuzten Hämmer am Oberteil des großen Steines sind neuzeitig, denn der Ausführung nach gleichen sie dem Datum 24. 8. 1911.
- Sie befinden sich unweit des Roten Steines und wurden zur Erinnerung an erlegtes Wild errichtet. Sie trugen Tafeln mit dem Jagddatum, dem Namen der Jäger, und des zur Strecke gebrachten Wildes, samt dessen Gewicht. (Begleittext zur Karte des Jeschkengebirges 1:25 000, 1997.)
- W. Pfeifer: Das Fürstenhaus Liechtenstein in Nordböhmen. Niederlandverlag. Backnang 1984.
- Der Gründer der Tollensteinwirtschaft Johann Josef Münzberg war Wirt am Tollenstein bis zu seinem Tod im J. 1907. Ihm folgten sein Sohn und später sein Enkel Johann. Dieser war bis 1945 Besitzer und in den Jahren 1951 bis 1962 Verwalter. (Mündliche Mitteilung von Johann Münzberg aus St. Georgenthal Nr. 97 am 15. 5. 1971.) Nun folgten in schneller Reihenfolge sieben andere Tollensteinwirte, worauf es im J. 1977 zum Schließen der heruntergewirtschafteten Gaststätte kam. Sie ist seit 2003 wieder in Betrieb.
- Das Wappen derer von und zu Liechtenstein tragen heute noch die Eingangsportale der Stadtkirche und der Dechantei in Warnsdorf, des Rumburger Schlosses und der Loreto-Kapelle, die Santa Casa und das Innere der Klosterkirche. Das alte Gasthaus in St. Georgenthal trug ebenfalls neben dem Stadtwappen von St. Georgenthal das Liechtensteinische Familienwappen aus dem Jahre 1777. Dieses Rathaus wurde 1973 abgerissen und die Wappen kamen um 1980 in eine Mauer des Privathauses Nr. 252 in der Kreuzberggasse. Nach den Mitgliedern der Familie Liechtenstein waren einige Orte des Niederlandes benannt: Zwei der ursprünglichen Warnsdorfer Dörfer hießen Floriansdorf und Karlsdorf, dem Ortsteil Sophienhain in Obergrund liegt der Name der Gräfin Sophia zugrunde. Der Ortsteil Aloisburg am Nordrand von Rumburg hat den Namen nach dem Fürsten Alois von Liechtenstein. Eine Quelle im Kohlhaugrund heißt bis heute Fürstenbrunnen (Knížecí studánka). Nach der Mitteilung von J. Münzberg trank daraus der Fürst Liechtenstein.
- Wir finden das kleine Denkmal, wenn wir von der Tollensteinstraße oberhalb vom Bahnhof Tannenberg rechts die Goldgrubenstraße abzweigen. Es steht etwa hundert Meter vor der Einmündung dieser Straße in die Schöberstraße. Dem Fürsten Johann II. von und zu Liechtenstein (geb. 1840, verst. 1929), der 1858 zu regieren begann, war auch anlässlich des 40-jährigen Regierungsjubiläums eine Gruppe von Basaltsäulen inmitten einer Eichenpflanzung an einem Waldwege in der Nähe des Rauchberges bei Schönlinde gewidmet (siehe Anm. 12, S. 135). Diesem Fürsten verdankte Münzberg die Bewilligung zur Erbauung einer Restauration auf dem Tollenstein. Nach der Zerstörung der Burg bediente sich die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften des billigen Baumaterials und war auch zum Teil auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Die fürstliche Verwaltung sah sich gezwungen, "alles weitere Zerstören der Ruinen" bei Strafe zu untersagen, was mit dem Bau einer Gastwirtschaft endlich ein Ende nahm. (A. Hockauf: Heimatskunde des pol. Bez. Rumburg, S. 182. Rumburg 1885.) Der bescheidenen Restauration in der Kapellenruine von 1865 folgte schon im Jahr darauf eine Gastwirtschaft im Schweizer Stil anstelle der heutigen Baude.